Besuch der „alten Dame“

Nein nein, das hat nichts mit Dürrenmatt oder Flickenschildt zu tun. und es kommt auch niemand zu Besuch, ganz im Gegenteil. Ich habe mich aufgemacht, eine „Alte Dame“ zu besuchen.

Fast exakt 30 Jahre ist es her, dass ich 1994 während eines Besuchs bei meinem Bruder in Tanzania/Ost-Afrika die Gelegenheit bekam, eine Kontrollfahrt auf einem Teilstück der „Central Line“ genannten Eisenbahnstrecke zwischen Dar Es Salaam und Kigoma am Tanganjika See zu begleiten. Startpunkt war die im zentralen Hochland gelegene Stadt Tabora, Endpunkt sollte die wichtige Handels- und Hafenstadt Kigoma am Tanganjika See sein.
Als Vehikel für diese 400km lange Reise wurde ein „Trolley“ angekündigt – zum Glück wusste ich damals nicht was das ist und was mich erwartet. Am Bahnhof wurden wir dann zu einem Nebengleis gelotst und dann offenbarte sich auch schon unser Untersatz für die kommenden acht bis zehn Stunden:

Der rollende Briefkasten zwischen den beiden blauen Diesel-Lokomotiven sollte es sein.
Ich muss gerade an die Augsburger Puppenkiste mit der Blechbüchsen-Armee denken, weiß auch nicht warum. (Foto: Franz Schulte, 1994)

 
Hier in voller Schönheit, das dieselgetriebene Schienenfahrzeug aus bundesdeutscher Fertigung. Was lokal mit dem schlichten Wort „Trolley“ beschrieben wird, heißt im Hersteller-Katalog „Gleiskraftwagen“. (Foto: Franz Schulte 1994)


Robel Gleiskraftwagen kurz vor dem Start auf dem Bahnhofsgelände in Tabora (Foto: Franz Schulte, 1994)

Dieser Kraftwagen hatte schon einige mehr oder weniger sinnvolle Modifikationen erfahren, wovon die für uns bedeutsamste im Stand nicht erkennbar war. Die massiven Bodenbleche der Kabine waren nicht mehr mit dem Rahmen des Vehikels verschraubt, sondern wurden durch lose aufgelegte, schwere Metallbarren an ihrem Platz fixiert.
Als eine zwischen den Reisenden begonnene Unterhaltung zugunsten eines frühen Starttermins abgebrochen werden musste, war meine Idee, auf der Reise noch genügend Zeit zum Quatschen zu haben, aber das wurde vom Leiter unserer Expedition kurz und entschieden verneint: „man KANN sich während der Fahrt nicht unterhalten“. Warum das so ist wusste ich schon nach wenigen Metern Fahrtstrecke. Die „seinerzeit“ mal geräuschämmend montierte Haube des kräftigen Deutz-Diesels lag nur noch lose über der Maschine und ließ uns regen Anteil an den mechanischen Lebensäußerungen unseres Antriebs nehmen. Noch schlimmer war aber, dass die Bodenplatten auf der rumpeligen Gleistrasse trotz der schweren Metallklumpen ein erstaunliches Eigenleben entwickelten und damit im Chor mit dem Deutz-Diesel ein wirklich infernalisches Getöse veranstalteten. Auf der eingleisigen Strecke mussten wir mehrmals pausieren und den Gegenverkehr passieren lassen – ein Segen für unsere Ohren und das allgemeine Wohlbefinden. Ist es wirklich besser schlecht zu fahren als gut zu laufen??
Hier noch ein paar Bilder „von unterwegs“:
  

Wasserspeicher Hochbehälter und schwenkbare Zapfstelle für die Dampfloks.(Fotos: Franz Schulte, 1994)

Eine Drehsscheibe, ebenfalls aus der Zeit der Dampfloks. Die üppige Vegetation betreibt hier ein scheinbar recht erfolgreiches Renaturierungsprojekt (Foto: Franz Schulte 1994)

Immerhin haben wir Kigoma erreicht und sogar freie Zimmer im örtlichen Hotel beziehen können. Am kommenden Morgen haben wir uns u.a. das Hafengebiet angesehen. Da lag sie dann, die alte Dame der Süßwasser-Schiffahrt, das wahrscheinlich älteste, noch aktive Passagierschiff der Welt, die MV Liemba“ :

Die Liemba, in einem abgelegenen Teil des Hafens von Kigoma. (Foto: Franz Schulte 1994)
   

Die Brücke (Deckshaus) wird komplett erneuert und (leider) auch stilistisch modernisiert. (Foto: Franz Schulte 1994)

Die Liemba, ex „Goetzen“, 1994 im Hafen von Kigoma zur umfangreichen Restaurierung im Flachwasser aufgelegt. (Foto: Franz Schulte 1994)

Rückfahrt per Robel Trolley nach Tabora. Starke Regenfälle haben einige Flüsse anschwellen lassen. Treibgut staut sich hier vor einer nicht übermäßig vertrauenserweckenden Brücke - eine nicht unbedingt nötige Steigerung der Nervenbelastung. Die Brücke hat aber gehalten! (Foto: Franz Schulte 1994)


Zur abenteuerlichen Geschichte der Liemba:

Im Jahr 1913 bestellte die Kolonialabteilung des Kaiserlich Deutschen Auswärtigen Amts bei der Meyer Werft im niedersächsischen Papenburg ein Schiff für den Passagierverkehr auf dem Tanganyika See in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika. Unter der Baunummer 300 begannen die Fachleute der Werft umgehend mit der Konstruktion und Fertigstellung eines Dampfschiffs mit 71,4m Länge und 10m Breite bei einem Tiefgang von nur 2,5m und einer Verdrängung von maximal 1.200 Tonnen vollbeladen, leer 800 Tonnen. Für den Antrieb wurden zwei Dampfmaschinen mit je 250PS eingebaut.
Das Schiff war nur für den Betrieb auf einem Binnensee ausgelegt, die Auslieferung in die ostafrikanische Kolonie auf eigenem Kiel durch Ärmelkanal, Biskaya, Mittelmeer und Suezkanal bis nach Dar Es Salaam am Ufer des Indischen Ozeans war deshalb nicht möglich. Die Goetzen wurde also zunächst nur zusammengeschraubt, nicht genietet. Nach der technischen Abnahme auf der Helling (auf dem Trockenen, ohne Wasserkontakt) am 17./18. November 1913 wurde das Schiff wieder auseinander genommen und die Einzelteile in ca. 5.000 Kisten verpackt und per Bahn nach Hamburg transportiert. Von dort ging der Schiffsbausatz, auf drei Frachter verteilt, auf die Interkontinental-Reise.
Am 16. Februar 1914 kamen die letzten Kisten zusammen mit den von der Meyer Werft entsandten Papenburger Schiffbauern Anton Rüter, Hermann Wendt und Rudolf Tellmann in Dar Es Salaam an. Für den letzten Teil der Lieferstrecke bis zum 1.300km entfernten Bestimmungsort Kigoma wurden die Kisten auf die mittlerweile fertiggestellte „Mittellandbahn“ (heute „Central Line“) verladen. Die immer wieder erzählten und auch dramatisch illustrierten Berichte von einem Transport per Träger und Ochsenkarren über die letzten Kilometer afrikanischer Wildnis sind ziemlich sicher die vielleicht willkommene Ausschmückung einer sowieso schon unglaublich abenteuerlichen Geschichte.
Am Ufer des Tanganjika Sees wurde zunächst eine behelfsmäßige Werft aufgebaut und dann mit dem Zusammenbau des Dampfers begonnen. Dafür sollen 160.000 Nieten verarbeitet worden sein.
Die erforderliche und auch eingeplante Quer-Stapellaufanlage konnte wegen des Kriegsausbruchs nicht mehr geliefert werden, also musste improvisiert werden. Vor der Werft wurde eine große Grube ausgehoben und die halbfertige Goetzen langsam hineingelassen. Das klingt so simpel, war es aber nicht! Der Schiffsrohbau wog schon mehrere hundert Tonnen. Nachdem das Schiff komplett in der Grube lag und weitgehend fertiggestellt war, wurde der noch trennende, schmale Wall zum See hin durchstoßen und am 05. Februar 1915 schwamm das Schiff erstmals auf eigenem Kiel. Durch die weltpolitischen Ereignisse des Jahres 1914 waren die Kolonialnachbarn aus England und Belgien zu Kriegsgegnern geworden, die Goetzen wurde deshalb durch Montage einiger Geschütze und Kanonen zu einem „Hilfskriegsschiff“ umgewidmet.

Die „Goetzen“ um 1915, vor dem Umbau zum Hilfskriegsschiff. Der belgische Text stammt aus 1919. (Bildquelle Wikipedia/Unknown author)
Im weiteren Verlauf des ersten Weltkriegs mussten sich die deutschen Truppen vom Tanganjika See zurückziehen. Ihr Kommandant Von Lettow-Vorbeck befahl, die Goetzen zu versenken, damit sie nicht dem Feind in die Hände fallen konnte. Die Deutschen Militärs glaubten an eine baldige Rückkehr, der Papenburger Schiffbauer Anton Rüter ließ deshalb alle wichtigen Teile des Schiffs dick mit Fett einschmieren, bevor das Schiff am 26. Juli 1916 auf nur etwa 20m Tiefe versenkt wurde. Im mit rund 1.400m zweittiefsten und mit 673km längstem See der Welt hätte es sicher ausreichende Möglichkeiten für eine unwiderbringliche Entsorgung gegeben. Wer tatsächlich für die Entscheidung zur "Versenkung light" verantwortlich war ist heute nicht mehr endgültig zu klären,aber es liegt nahe, dass die Schiffbauer aus Papenburg hier ihre Finger im Spiel hatten, damit ihr Werk nicht endgültig verloren ging.  
Aus der Rückkehr der Deutschen Kolonialisten wurde aber bekanntermaßen nichts, die Belgier übernahmen zunächst Kigoma und versuchten ab 1918 die versenkte Goetzen wieder zu heben. Ende 1919 hatten Sie das Schiff um etwa 1,50m vom Grund angehoben, so dass sie es zurück in Richtung Kigoma schleppen und in Ufernähe wieder absenken konnten. Eine endgültige Hebung scheiterte aber in den Folgejahren. Im Mai 1920 beendeten die Belgier die Bergungsversuche wegen der immensen aufgelaufenen Kosten endgültig.
Erst als die Briten 1920 Kigoma übernahmen geriet die Goetzen wieder ins Visier der Fachleute. Die tatsächliche Bergung dauerte allerdings bis zum 16. März 1924. Danach wurde der Dampfer wohl mehr oder weniger problemlos restauriert und am 16. Mai 1927, elf Jahre nach der Versenkung, mit einer feierlichen Taufe auf den Namen „Liemba“, der Bezeichnung des Tanganjika Sees in der Landessprache Kiswahili, wieder in Betrieb genommen. Es folgten viele Jahre unaufgeregter Liniendienst bis 1950 eine größere Renovierung anstand. Die altertümlichen Dampfmaschinen aber wurden erst im Laufe einer großen Instandsetzung in den Jahren 1976 bis 1978 gegen zwei je 400PS starke Dieselmotoren ausgetauscht. Ab 1979 war die Liemba wieder auf „großer Fahrt“ im Linienverkehr.
Mit finanzieller Unterstützung der Dänischen Agentur für Entwicklungszusammenarbeit DANIDA begannen 1993 erneute Instandsetzungs- und Umbaumaßnahmen. Es wurde dabei u.a. das Deckshaus (Brücke) umgebaut (s. Fotos), die Motoren erneuert und der hintere Laderaum in einen Passagiersaal umgewandelt.

Die Liemba nach erfolgreichem Umbau der Brücke und Einbau von zwei starken Dieselmotoren. (Bildquelle Wikipedia/Emi454, 2016)
Danach hat die Liemba wieder für viele Jahre den Transport von Menschen und Waren über den Tanganjika See übernommen. Nachdem die Ausfälle sich stark häuften wurde die alte Dame 2018 stillgelegt. Seitdem lag sie in Kigoma fest und wartete auf die Dinge, die da kommen könnten. Das Schicksal dieses ganz besonders geschichtsträchtigen Oldtimers hatte auch im niedersächsischen Papenburg, dem Geburtsort des Schiffes, bereits eine kleine Welle ausgelöst. Hier entstand die Idee, das Schiff vom Tanganjika See zurück nach Papenburg zu holen und zum Museumschiff zu machen. Die von einem eigens hierfür gegründeten Verein eingesammelten Spenden haben aber wohl die tatsächlich erforderliche Summe für die Realisierung dieser „Idee“ nicht annähernd gedeckt. Die Beluga Reederei von Niels Stolberg soll auch an diesen Ideen beteiligt und als Mit-Finanzierer eingeplant gewesen sein. Ihre aufsehenerregende Insolvenz hat den Plänen der Liemba-Rückholung wohl den finalen Dolchstoß versetzt. Nun sah eigentlich alles danach aus, dass ein wesentliches Stück maritimer Geschichte über kurz oder lang einfach verschrottet werden müsste.

In den Jahren nach 2020 ist aber doch einiges passiert und auch in Tanzania hat es erstaunliche Entwicklungen gegeben. Stand der Dinge ist aktuell (Nov. 2024), dass es ein Budget von 33 Mill US-Dollar für die Restaurierung der Liemba gibt und dass im Sommer 2024 ein Reparatur- und Instandsetzungsauftrag an ein Konsortium aus DMG (Dar Es Salaam Merchant Group) und der kroatischen Brodosplit Werft vergeben worden ist. Demnach soll das Schiff 2026 frisch renoviert und neu motorisiert wieder in Dienst gestellt werden und vielleicht weitere 100 Jahre seine Linien über den Tanganjika See ziehen.

Der Stand der Bauarbeiten kann u.a. auf Instagram unter https://www.instagram.com/p/DAShcbkKoi1/?img_index=10 begleitet werden.
Nach millimetergenauer Vermessung des Schiffs wurde mit Hilfe der Meyer Werft ein 3D Modell erstellt und publiziert. Eine wunderbare Seite für Neugierige wie mich: https://mpembed.com/show/?m=aE9xyZ6fpQx&mpu=872&mpv=v1  

Das weitere Schicksal der Liemba sieht wieder etwas rosiger aus. Warten wir´s mal ab.